Bevor ein Pendel umschwingt, hält es inne.
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Reisen in Zeiten von Corona
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Kerstin auf Umwegen: Eine besondere Reise

Wir alle lieben die Illusion der Planbarkeit. Wir füllen unsere Kalender, Pitches und Anträge mit unseren Ideen und den dazu passenden Zeitplänen, die wir sorgfältig mit allen Beteiligten abstimmen. Doch was passiert, wenn sich das Leben in unsere Pläne hineinreklamiert? Mein ganz persönlicher Rückblick auf einen Umweg 2019.

Im Juni 2019 war die Welt noch in Ordnung. Der destination:development-Projekthimmel hing voller Geigen. Gerade hatten wir einen kreativen Workshop mit Expert*innen aus den unterschiedlichsten Bereichen im Rahmen unseres von der FFG gefördertenImpact InnovationProjektes abgeschlossen. Dabei haben wir innovative Methoden wie „The Art of Hosting“, emotionales Mapping mit einer Illustratorin und theaterpädagogische Elemente integriert und ausprobiert. Eine wirklich schöne und runde Veranstaltung, die nicht nur viel Freude gemacht hat, sondern mit der wir auch eine echte Verbindung zu den Expert*innen und zum Thema Tourismus herstellen konnten. Das für einige neu war. Ein wunderbarer Ausgangspunkt für den nächsten Meilenstein, der ganz nach Plan, Mitte Juni starten sollte. Davor standen aber noch ein paar Tage private Auszeit in der Sonne auf dem Programm, denn 2019 sollte nicht wieder ohne die so wichtigen Pausen stattfinden, auf die mein Mann Martin und ich leider gerne beim Füllen unserer Kalender vergessen. Doch dann kam alles anders.

 

Ein Anruf, und alles ist anders

Kaum waren wir nach ein paar traumhaften Tagen auf einer kleinen Finca mit Schafzucht im Herzen Mallorcas wieder zu Hause gelandet, bekomme ich einen Anruf, der alles verändern sollte. Es ist meine Mutter. Als ich auf Ihre Frage, ob wir denn schon wieder zurück wären mit ja antworte, bricht sie in Tränen aus. Mein Vater ist ohnmächtig geworden, mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen und gerade mit dem Hubschrauber unterwegs ins Landesklinikum St. Pölten. Ich habe ein deja vu. Bereits 2014 erreichte mich ein solcher Anruft mitten in der Nacht. Auch damals war er aus unerklärlichen Gründen ohnmächtig geworden und gestürzt. Die Folge waren ein Schädelhirntrauma mit bleibenden kognitiven Schäden, monatelange Rehabilitation und ein langer, gemeinsamer Weg zurück in eine neue Normalität. Doch es sollte diesmal alles anders kommen.

Nachdem meine Mutter an Multipler Sklerose in einem bereits sehr fortgeschrittenen Stadium leidet, bin ich in solchen Krisen Kopf und Gliedmaße der Familie. Also rein ins Auto, Mutter abholen und ab zum Krankenhaus nach St. Pölten. Als wir ankommen ist mein Vater noch im Operationssaal. Man nimmt ihm einen Teil der Schädeldecke ab, um den Druck auf das stark anschwellende Gehirn zu verringern. Die nächsten Tage werden zeigen, ob man ihn aus dem künstlichen Koma zurückholen kann. Die Schäden der Verletzung sind jetzt noch nicht abschätzbar.

Es ist ein Wunder, als er sein Bewusstsein wiedererlangt. Er kann uns verstehen, aber seine Sprache ist völlig verschwunden, ebenso wie die Wahrnehmung seiner rechten Körperhälfte. In meinem Kalender stehen ab sofort nur noch 3 Termine. Jeden Tag die selben. 1.) Projektleitung bei ECPAT Österreich 2.) Versorgung und Abholung meiner Mutter bzw. Besuch im Krankenhaus, wenn sie wieder einmal selbst ärztlich versorgt werden muss  3.) gemeinsamer Besuch meines Vaters und Management seiner Behandlung, inklusive gesetzlicher Erwachsenenvertretung. Jeder Task in einer anderen Stadt. Wochenstunden: 70+ Mein Terminkalender ist voll und ich bin nicht länger Herrin meiner Zeit.

 

Ehrliche Verbundenheit hilft

Viereinhalb Monate lang bucht das Leben diese drei täglichen Termine. Unterbrochen wird dieser neue Alltag lediglich von einem weiteren Schicksalsschlag, der mich selbst unters Messer und einige Tage ins Krankenbett zwingt. Danach geht es im selben Walzertakt weiter – 1,2,3; 1,2,3; …

Ich muss erkennen, dass meine Planbarkeit wohl nicht mehr so schnell zurückkommen wird. Das ist kein angenehmes Gefühl und gleichzeitig spüre ich, dass dieser Terminwalzer gerade die höchste Priorität haben muss. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und informiere meine Projektpartner*innen und Fördergeberin über meine Situation. Lange lege ich mir die richtigen Worte der Rechtfertigung zurecht, um auch wirklich deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass es nicht an meiner Unfähigkeit zu planen scheitert oder ich mein Projekt nicht ernst genug nehme. Es soll keinerlei Zweifel an meiner Hingabe gegenüber meinem Herzensprojekt aufkommen. Doch es sollte anders kommen als gedacht.

Die Reaktionen auf meine offene Darstellung der Lage berühren mich jetzt noch und erfüllen mich mit tiefer Dankbarkeit. Ausnahmslos alle sind mir mit so viel Verständnis, Wärme und Menschlichkeit begegnet, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte. An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal sehr herzlich beim Team der FFG, meinen Projektpartner*innen, dem Club Tourismus, der Wiener Urania, dem Team von ECPAT und allen anderen, die ich jetzt nicht erwähnt habe und die mir mit ihrem Wohlwollen und ihrer kindness einen Teil meiner Last von den Schultern genommen haben, bedanken. Mit allen konnte ich Lösungen finden, die es mir ermöglicht haben diesen Terminwalzer ohne zusätzlichen Druck oder Angst vor dem Verlust meiner Wahrnehmung als engagierte, verlässliche Partnerin zu tanzen.

 

Das Leben hat immer recht

Meine tiefste Dankbarkeit gilt dem Leben, das mir meine lieb gewonnene Terminplanung aus den Händen gerissen hat. Es wird langsam deutlich, dass die Stunden, die das Leben da in meine Agenda hineinreklamierten hat, die letzten sind, die mein Vater und ich miteinander verbringen werden. Nach einem harten Kampf mit dem Gesundheitssystem gelingt es mir, ihn für 12 unendlich wertvolle Tage nach Hause zu holen, bevor er von anderer Stelle nach Hause geholt wird. Ich möchte nicht eine Sekunde davon missen.

Die Versuchung ist groß, diese unfreiwillig umgewidmete Zeit aus professioneller Sicht als verloren zu betrachten. Auf den zweiten Blick, wird aber ganz deutlich, dass diese Zeit eine intensive Fortbildung auf vielen verschiedenen Ebenen ist. Noch nie habe ich so viele „rohe Eier“ auf einmal jongliert. Das sage ich deswegen, weil es bei vielen Themen, mit denen ich mich beschäftigen musste, tatsächlich um Leben und Tod ging. Das erzwingt einen völlig neuen Umgang mit heiklen Themen und wichtigen Entscheidungen. Auch die Anzahl der zu erledigenden Aufgaben stellt alle herkömmlichen to-do-Listen in den Schatten.

Die wichtigsten Lehren, die ich aber aus dem Verlust meiner Planung gelernt habe sind: Offenheit, Loslassen, Verbundenheit und Vertrauen. Offenheit gegenüber meinen beruflichen Partner*innen, in der Offenlegung meiner Verletzlichkeit und Menschlichkeit. Loslassen von Plänen und Einteilungen, die nicht mehr passen und in die man das Leben nur mehr unter großem Druck hineinquetschen kann. Verbundenheit mit den Menschen, mit denen ich arbeite, und zwar auf einer Ebene, die über das Berufliche hinausgeht. Verbundenheit im Schmerz und in allem was das Menschsein für uns alle so mit sich bringt. Vertrauen in die ständige Veränderung von uns selbst, unseren Umständen und Rahmenbedingungen und in die Chance auf neue Wege.

Mit diesen Erkenntnissen und in diesem Bewusstsein möchte und werde ich zukünftig meine Arbeit bereichern. Ganz besonders in und nach der Corona-Krise wird es viel davon brauchen. Und außerdem geht es beim Reisen und im Tourismus immer um Begegnungen mit uns als Menschen. Ob nun bei Reisen zu uns selbst oder bei Begegnungen miteinander.